Das Dorf
In einem grünen Tal in gebirgiger Landschaft am Fuße des Paghman Gebirges – 100 km (ca. 3 Stunden Autofahrt) südwestlich der Hauptstadt Kabul in der Provinz Maydan Wardak- liegt das Dorf Kohna Khomar, das aus 18 Ortsteilen besteht.
Kohna Khomar liegt etwas abgeschieden von der Fernstraße Kabul-Kandahar und war so auch nie ein militärisches Ziel. Die Menschen leben hier entlang eines Nebenflusses vom Kabulfluss: 2000 Familien, von denen ungefähr 300 nur aus Witwen und Kindern bestehen.
Die Ortsteile liegen weit auseinander. Der Weg in das Tal von Kohna Khomar ist sehr beschwerlich und ein Schotterweg führt nach Baladeh, wo die Mädchenschule neben die Moschee gebaut worden ist. Alle Kinder kommen zu Fuß zur Schule und müssen bis zu drei Stunden laufen.
Die Ortsstruktur von Kohna Khomar ist über die Kriegsjahre weitgehend erhalten geblieben. Eine der Besonderheiten des Dorfes ist, dass hier verschiedene Ethnien friedlich zusammenleben. So trifft man hier in gleichem Maße Paschtu- wie auch Dari-sprechende Bewohner. Die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen sind weitgehend intakt. Auch aus diesem Grund wurde Kohna Khomar von UNICEF als unterstützungswürdig eingestuft und u.a. das Trinkwassersystem von UNICEF wiederhergestellt.
Schulen in Kohna Khomar
Heute gibt es in Kohna Khomar 4 Grundschulen und eine Koranschule: 3 Jungenschulen und seit 2008 eine Mädchenschule. Etwa 50% der Familien des Dorfes schicken ihre Kinder zur Schule.
Die meisten Mädchen des Dorfes sind – wie in Afghanistan üblich – bis 2008 in häuslichem Unterricht privat betreut worden. Eine eigene Schule könnte mehr Mädchen als bisher einen Schulabschluss ermöglichen, so die Erwartung der Dorfältesten.Im Gegensatz zu unseren bisherigen Erfahrungen in Afghanistan, kam der Impuls und die Bereitschaft, etwas zu verändern aus dem Dorf: Die Dorfältesten selbstinitiierten den Bau der Mädchenschule.
Bau der Mädchenschule – der Anfang
Nach einer ersten Kontaktaufnahme in 2004 sind die Dorfältesten mit dem Wunsch, auch für die Mädchen eine Schule zu bauen, an AFGHAN e.V. herangetreten, denn der Bau der Schule überstieg ihre finanziellen Verhältnisse.
Ziel von AFGHAN e.V. war es, die Bewohner von Kohna Khomar bei ihrem Projekt zu unterstützen: mit Geld und technischem Know-how, aber auch mit pädagogischer Hilfestellung.
Das von der Dorfgemeinschaft bereit gestellte Grundstück von ca. 6500 qm liegt auf einem ca. 15° bis 20° ansteigendem Gelände, völlig karg, ohne Bäume und Sträucher mit einer nach Süden gerichteten Neigungslage.
Es liegt zentral für alle 18 Ortsteile.
Für die Erstellung eines ersten Entwurfs der Schule konnten wir einen Afghanistan erfahrenen Architekten aus Berlin gewinnen, der bereit war, auch bei der Umsetzung des Schulbaus kostenlos beratend tätig zu sein. Er fertigte ein ausgefeiltesModell für die Mädchenschule an, das als Diskussions- und Konzeptvorlage für die weitere Planung diente.
Bauplanung 2006:
Die Schule wurde zunächst für 200 Mädchen geplant. Bei wachsender Schülerzahl sollte eine Erweiterung möglich sein. Dafür sah die Planung folgende Räume vor:
– 5 Klassenräume
– 1 Lehrerzimmer – 1 Mehrzweckraum – 1 Küche |
– Sanitärraum
– Erste-Hilfe- / Arzt – Raum – Überdachter Vorplatz
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Architektonisch sollte das Gebäude so gestaltet werden, dass es wenig Energie verbraucht und möglichst vielseitig nutzbar ist. Das Schulgebäude sollte u.a. für die Ausbildung der Frauen des Dorfes, z.B. für Alphabetisierungs- und handwerkliche Kurse genutzt werden. Mittelfristig wurde eine medizinische Ambulanzstation geplant.
Kooperation mit UNICEF
Mit 45.000 € überstiegendie Baukosten für das geplante Schulgebäude allerdings die Finanzierungsmöglichkeiten des Vereins. Nach Abschluss der Entwurfs- und der Konzeptionsphase hat AFGHAN e.V. deshalb Partner für die Finanzierung des Vorhabens gesucht.
Nach großen Anstrengungen ist es dem Verein gelungen, UNICEF Deutschland für die Durchführung des Schulbaus zu gewinnen. Damit entwickelte sich die Mädchenschule in Kohna Khomar zu einem Kooperationsprojekt zwischen AFGHAN e.V. und UNICEF: der Bau und der größte Teil der Finanzierung der Schule lag in den Händen von UNICEF – der Verein übernahm einen kleinen Teil der Finanzierung und begleitete das Projekt über die Realisierungsphase hinaus. Afghan e.V. fühlte sich für den langfristigen Betrieb verantwortlich.Die Liste der Wünsche von Seiten der Lehrer war lang. Für die laufende Unterstützung der Schule kümmerte sich der Verein verstärkt um Sponsorengelder und Spenden.
In Deutschland wurden Ausstellungen, Informationsveranstaltungen, Vorträge und Sammlungen organisiert.
Die Übernahme des Schulbaus durch UNICEF bedeutete die Notwendigkeit von Abstrichen hinsichtlich der Umsetzung der bis dahin vorgenommenen Bauplanung. So konnten z.B. die Grundlagen des vom Planungsarchitekten erbauten Schulmodells beim Bau der Schule nur zum Teil umgesetzt werden.Auch bezüglich der Baumaterialien wurde anders entschieden: Anstelle der vorgesehenen ortsüblichen Lehmbauweise entschied sich UNICEF für eine Steinkonstruktion, was sich im Nachhinein jedoch als vorteilhaft erwies.
Am 1. November 2008 wurde die Mädchenschule mit zehn Lehrern und ca. 250 Schülerinnen eröffnet. Sie erhielt den Namen Zandra-Woman-School.Die notwendige Anmeldung der Schule in Kabul, die Erlaubnis des Lehrbetriebes sowie der Eintrag des Grundstücks als Schulgrundstück hat das Dorf übernommen.
Nachdenken über die Rolle der Frau
Durch die Entscheidung für den Bau der Mädchenschule wurde bei den Bewohnern von Kohna Khomar ein erfreulicher Diskussionsprozess angeregt: Bislang spielten Frauen in der öffentlichen Bildung fast keine Rolle, unterrichtet haben ausschließlich Männer. Es stellte sich bald heraus, dass die Einstellung von Lehrerinnen für die Schule eine Herausforderung darstellen würde. Denn damit müssten die jungen Frauen eine Arbeitsstelle außerhalb ihrer Wohnung annehmen. Dies widerspricht den bisher üblichen Konventionen.
Aus dem Nachdenken über die Mädchenschule wurde jetzt Nachdenken über die Rolle der Frau. Ergebnis war allerdings, dass sich die Dorfältesten nach Rücksprache mit dem Mullah für die Unterrichtung durch Lehrer entschieden, weil Lehrerinnen in Kohna Khomar nicht auffindbar waren. In dem Ortsteil Baladeh – Standort der Schule – konnte nur eine Frau lesen uns schreiben.
Einige Mädchen haben z. T. einen Schulweg bis zu 3 Stunden. Daher ist es schon ein großer Fortschritt, dass sie alleine zu dieser Schule gehen dürfen und dass sie überhaupt eine Schule besuchen sollen.
Die Schule und der Unterricht an der Zandra-Woman-School
An der Zandra-Woman-School arbeiten 19 Lehrer, 8 von Ihnen haben eine Highschool – Ausbildung.
Unterrichtsfächer sind Islamische Religion, Dari, Pashto, Englisch, Mathematik, Sport, Biologie, Physik, Chemie, Zeichnen.
Seit 2008 finanzierte der Verein Lehr- und Lernmittel für den Unterricht der Schülerinnen und Schüler, die Inneneinrichtung in der Schule – zunächst die Ausstattung der Klassenräume mit einem Lehrerpult und Materialschrank. Nähkurse für Schülerinnen und Frauen des Dorfes, Kunstwettbewerbe und substanzerhaltende Maßnahmen.
Die Anschaffung von Schulmöbeln für die Schülerinnen steht auf der Prioritätenliste der Lehrer weit unten. Wichtiger sind ihnen bauerhaltende Maßnahmen wie die Sanierung des Schuldaches. Das undichte Dach wurde von Anfang an beanstandet. Die Schule hatte keine Möglichkeit, gegen die Baufirma vorzugehen.
Nähkurs an der Zandra-Woman-School
In 2010 wurde das Projekt Nähunterricht für Mädchen und Jungenbegonnen. Das Lehrergehalt wurde von Afghan e. V. übernommen.
Um den Nähunterricht für Jungen und Mädchendurchführen zu können, wurden 15 handbetriebene Nähmaschinen, Stoffe, Garne usw. in Kabul gekauft und ein Textillehrer für den Unterricht eingestellt. Erste Klassen haben sich schon eigene Schulkleidung genäht.
Über diese attraktive Möglichkeit sollten auch die Frauen des Dorfes mit der Schule vertraut gemacht werden.
Stellungnahme des Schulleiters: “Der Nähkurs geht sehr gut, die Schüler und Schülerinnen lernen verschiedene Nähtechniken, um Hosen oder T-Shirts zu nähen.
Viele Schüler haben sich auch neuerlich für den Nähkurs angemeldet. Und sie arbeiten dort sehr fleißig. Wenn Ihr weiter helft, kann der Nähkurs erfolgreiche fortgesetzt werden.“
Mit großer Unterstützung eines aus Afghanistan stammenden Spediteurs aus Hamburgkonnten wir wiederholt einen Transport (Containerbeiladung)mit gesammelten Handarbeitsutensilienfür die Nähkursesowie Geschenke für die Schüler, den Schulleiter, Hausmeister und den Nählehrer nach Kabul organisieren.
Alle 6 Pakete sind gut angekommen.
Nähkurs für Frauen in Kohna Khomar
Der Erfolg des Schülernähprojekts hat den Verein dazu bewogen, ab 2012 auch Nähunterricht für Frauen des Dorfes anzubieten.
Mirza Mohammad, der Lehrer der Schülernähkurse hat die Umsetzung des Nähprojekts übernommen: Es wurde eine Umfrage zum Bedarf unter den Frauen des Dorfes durchgeführt, eine Nählehrerin gesucht und geeignete Räumlichkeiten für den Nähunterricht im Dorf gefunden. Er hat die Organisation der insgesamt fünf Kurse à drei Monate mit insgesamt 45 Teilnehmerinnen und den Einkauf der Nähmaschinen und –materialien in Kabul übernommen.
Ziel der Nähkurse war zunächst die Vermittlung von Grundfähigkeiten. Die Kurse wurden mit großem Interesse aufgenommen. Auf Anfrage des Dorfes wurde ein paralleler zweiter Kurs in einem anderen Ortsteil von Kohna Khomar – CharQala – und einer zweiten Lehrerin eingerichtet. Nach erfolgreicher Absolvierung des Kurses konnten die Frauen die neuen Nähmaschinen mit nach Hause nehmen. Dadurch erhielten sie die Gelegenheit, für andere Dorfbewohner zu nähen und selbst Geld zu verdienen.
„Ich habe schon für meine Nachbarin genäht.“ „Mein Mann hat schon eine Shalva Kamis auf dem Markt verkauft“. (Aussagen von zwei Frauen)
Der Nähkurs für die Frauen war eine wichtige strukturelle Maßnahme für das Dorf und stellte zugleich eine positive Koppelung zwischen der persönlichen Entwicklung – vielleicht auch späteren Erwerbstätigkeit der Frauen – und der Schule dar.
Malwettbewerb
In denvier Monaten Winterferien 2011 / 2012 wurde ein Malwettbewerbzum Thema „Ein Baum meiner Wünsche“ausgelobt. 300 Schülerinnen und Schüler haben sich beteiligt und in den Winterferien (November bis März) vor allem Zeichnungen erstellt. Eine Lehrerjury hat die besten Darstellungen ausgezeichnet. Die hohe Schülerbeteiligung motivierte die Lehrer zu einem weiteren Wettbewerb in den Winterferien 2012/2013,diesmal zum Thema „Krieg und Frieden. Die Wettbewerbspreise kamen aus Deutschland, die Trostpreise für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden in Kabul gekauft.
Reparatur des Schuldaches
Seit Fertigstellung der Schule wurde das undichte Dach von Seiten der Lehrer problematisiert, aber die Schule hatte keine Möglichkeit, gegen die Baufirma vorzugehen. Eine Sanierung des Schuldacheswurde daher von der Schule als dringend eingestuft und der Dorfjirga in 2009 zur Entscheidung vorgelegt. Entscheidungsprobleme in der Jirga und bei AFGHAN e.V. führten dazu, dass die Reparatur erst in 2013 umgesetzt wurde. Lange Zeit standen die Argumente für eine einerseits preiswerte klassische, aber nur kurzfristig wirksame Dachisolierung aus Lehm und Stroh und andererseits einer aufwändigen Metallabdeckung bzw. einer unter der finanziellen Beteiligung des Dorfes umfassenderen und langfristig wirksamen Sanierung unvereinbar gegenüber.
Da das Dach aus Sicht des Vereins auf jeden Fall photovoltaikkompatibel sein sollte,
fiel die Entscheidung zugunsten einer umfassenden Erneuerung des Daches mit einer ausreichend tragfähigen Betonkonstruktion aus.
Die Baubegleitung und Kontrolle wurde von Kabul aus mit guten Kontakten nach Kohna Khomar durchgeführt.
Javid – Vereinsmitglied in Kabul – verwaltete die Projektmittel und Shapoor mit seiner sehr engen Verbindung zum Dorf organisierte die Arbeiter. Das war eine gute Arbeitsaufteilung. Trotz der schwierigen Sicherheitslage hat es Shapoor im Herbst geschafft, Handwerker in Kabul zu finden, die bereit waren, die Arbeiten an der Schule zusammen mit den Dorfleuten bis zum Ende durchzuführen.
Langsam und stetig mit viel Gewissenhaftigkeit wurde das Dach Stück für Stück erneuert. Es war gut, dass es genug Zeit gab, den Beton richtig aushärten zu lassen.
Damit sind nun auch die Voraussetzungen für eine neue Form der Energiegewinnung geschaffen worden. Letzte Phase: das
Izogam, die Außenhaut des Daches. Shapoor wartete und konnte das Material im Dezember 2013 billiger einkaufen. Die Arbeiter haben es geschafft, das Dach vor dem Winter fertig zu stellen.
Durch Javids und Shapoors gewissenhaften Umgang mit den Baugeldern hat Afghan e.V. bei der Finanzierung des Daches gespart. Von dem Überschuss kann jetzt mit dem Bau der Mauer um das Schulgrundstück begonnen werden.
Maßnahmen zur Sicherung der Schule
Der ursprüngliche Plan der Dorfältesten, die Zandra-Woman-School in der Nähe der Moschee aber doch deutlich davon entfernt auf einem unabhängigen Grundstück am selben Berg zu bauen – 2005 haben sie zusammen mit AFGHAN e.V. das vorgesehene Grundstück abgesteckt –, wurde aus Sicherheitsgründen verworfen.
Der endgültige Bauplatz wurde in unmittelbarer Nähe der Moschee verlegt. Begründet wurde dies mit der Notwendigkeit, die Schule und die Mädchen vor „unliebsamen Gästen“ (Kriminelle, Taliban) zu schützen.
Mit Beginn des Schulbetriebs für die Mädchen 2008 wurde die Schule in Absprache mit AFGHAN e.V. auch von den Jungen des Dorfes benutzt. Die müssen nun nicht mehr die Provisorien der Moschee in Kauf nehmen. Diese „Doppelnutzung“ wirkte sich für die Schule stabilisierend aus: Trotz der zunehmenden Aktivitäten der Taliban in dieser Provinz mit ihren grundsätzlich bildungsfeindlichen und gegenüber Mädchenbildung radikal ablehnenden Haltungen (nur Koranbildung wird geduldet oder gefördert) war der Fortbestand der Schule bis heute zu keinem Zeitpunkt gefährdet.
Allerdings gehen die Mädchen aufgrund der Drohungen durch die Taliban bedauerlicherweise seit 2012 nicht in ihre Schule. Der Schulleiter berichtete im Frühjahr 2012, dass sich die Lehrer für die Mädchen sehr eingesetzt hätten, um den Schulbesuch zu sichern – ohne Erfolg. Auch der Mullah der Nachbarmoschee konnte diese Entwicklung nicht aufhalten. Seit 2012 wird deshalb der Unterricht für die Mädchen von der ersten bis zur sechsten Klassein 4 Ortsteilen in privaten Gebäuden, mit 6 staatlich bezahlten Lehrern durchgeführt.
Sie erhalten trotzdem Zeugnisse und legen anerkannte Prüfungen ab. Dadurch ist auch das Gehalt der Lehrer gesichert.
Die Zandra-Woman-School war als Mädchenschule geplant – nun wird sie allein von Jungen genutzt – und sie existiert noch!
Es ist nicht absehbar, wann die Mädchen zurückkehren werden, aber alle Bewohner des Dorfes wissen: In Baladeh, das ist unsere Mädchenschule und die Mädchen haben ein Recht auf Bildung. Wir von AFGHAN e.V. freuen uns, dass die Initiative für die Mädchenschule seinerzeit aus dem Dorf selbst gekommen ist.
AFGHAN e.V. unterstützt weiterhin die Mädchen in ihren „Dependencen“ mit Schulmaterial und auch die Zandra-Woman-School. Der bedeutsame Zuwachs an Schülern ist sehr erfreulich, so dass die bald erweitert werden muss. Und endlich wird die Mauer um das Schulgelände herum gebaut – auch eine Maßnahme zur Absicherung der Schule: Kinder brauchen eine sichere Schule.
Juli 2015, Hiltrun Huetsch Seide